Befreit! Vom Umgang mit dem Digital Empty Nest Syndrom (DENS*)
Sich zu befreien ist wunderbar. Doch erfordert es oft Mut und Kraft. Das gilt auch für den Umgang mit der digitalen Welt. In diesem Beitrag berichtet Birgitt Morrien, wie sie sich mit einem ersten Schritt einen lang gehegten Traum erfüllt hat und warum. Dieser ersten Reflexion ihres Experiments werden weitere folgen.
DAS GEHEUL
Von meinen zehn Kindern sind gerade glatt die Hälfte ausgezogen. Ich bin untröstlich, auch wenn von den fünfen zwei nach einer Weile heimkehren werden. Das Haus wirkt auf mich wie verwaist. Besonders tagsüber, wenn ohnehin alle ausgeflogen sind.
Ich bin verwirrt und traurig, auch wenn ich mich auf das Weniger an Versorgungsarbeit freue. Die Zeit, die da frei wird, wunderbar! Aber was mache ich damit? Bisher war über viele Jahre alles klar und zum Nachdenken blieb nicht viel Zeit. Wie praktisch!
VIRTUAL KIDS
Tatsächlich spiegelt der Einstieg zu meiner heutigen Kolumne gut mein aktuelles Befinden wider. Rechtzeitig zum Frühjahr habe ich mir einen alten Traum erfüllt. Das digitale Großreinemachen hat begonnen, nach dem ich mich bereits seit mehr als zehn Jahren sehne.
Von meinen sieben Accounts und drei Domains habe ich drei deaktivieren lassen und zwei vorübergehend „stillgelegt“. Das gestatte ich mir nun, zehn Jahre nach meinem Plädoyer für die „Befreiung vom digitalen Dogma“. Mir steht der Sinn nach frischem Wind, nach einer neuen Ordnung, nach mehr Zeit.
Zugleich erlebe ich mich verunsichert. Zwar kann ich mir diese Art der digitalen Konzentration leisten. Längst ist es die persönliche Empfehlung, die Ratsuchende zu mir ins Coaching führt. Oder jemand hat Gefallen an meinen Büchern gefunden. Oder an meinen Blogbeiträgen …
DIE DREI DOMAINS
Da sind wir auch schon beim beherzten Reinemachen: Meinen COACHING-BLOGGER habe ich von mehr als 1.500 Artikeln auf > 70 geschrumpft. Mit Blick auf die Leser*innen bedaure ich das. Doch hindere ich Techkonzerne so daran, ihre KI weiterhin durch kostenlosen Zugriff auf meine Veröffentlichungen zu trainieren.
Warum nicht ausgewählte Essays und Kolumnen aus den Jahren in Buchform veröffentlichen und so Interessierten weiterhin zugänglich machen?! Die nötige Zeit dafür schaffe ich mir ja gerade und läute so das Ende einer mir unliebsamen Rolle als ebenso unfreiwillige wie unbezahlte Konzernzulieferin ein.
Meine Business-Domain COP-COACHING bleibt vom virtuellen Frühjahrsputz im Wesentlichen unberührt. So sind hier etwa von mir kostenlos bereitgestellte Buchveröffentlichungen auch weiterhin verfügbar. Lediglich der News-Bereich ist gestutzt, da viele Pressemeldungen und News mit dem Blog verlinkt waren.
Und auf der dritten meiner Domains, auf EIEI.ART, führen ausführliche Beiträge zum Hintergrund einer von mir initiierten Kunstaktion nun leider ins Leere, da diese auf den Blog verlinkt waren. Aber die Domain bleibt bestehen und auch hier gibt es die Idee einer Dokumentation zum Riesenei am Dom, über das bereits Hunderte Medien berichtet haben und das so ein Millionenpublikum erreichte.
DIE SIEBEN ACCOUNTS
Als ich die ersten drei meiner „virtual kids“ verabschiedet hatte, war es mir zunächst einmal nur leichter ums Herz. Bei X war ich regelrecht froh, denn es wurde seinem Vater immer ähnlicher, eine Art lästiger Muskito.
Was XING betrifft, hatte ich mich davon innerlich schon länger gelöst. Damit war ich ohnehin nicht mehr wirklich im Gespräch. Und PINTEREST, auch da gab es meinerseits bereits mehrjährig deutliche Vernachlässigungstendenzen, die mir den Abschied erleichterten.
Was zwei weitere „kids“ betrifft, haben diese sich zunächst nur temporär verabschiedet. Bei FACEBOOK ist der Kreis der Follower*innen überschaubar. Tatsächlich sind darunter viele, die ich persönlich kenne. Daher werde ich den Account redlich entrümpelt beizeiten wieder aktivieren.
Das gilt auch für LINKEDIN, wo ich naturgemäß meine rund 11.000 Follower*innen nicht persönlich kenne. Insofern weiß ich, dass meine Beiträge dort nicht nur von ehemaligen Klient*innen interessiert gelesen werden**. Insofern gilt auch hier, weniger ist mehr. Alte Beiträge machen neuen Platz.
Mit LINKEDIN meine Große gehen zu lassen, und sei es nur zeitweilig, ist mir fraglos am schwersten gefallen. Aber jede wirkliche Befreiung hat auch kritische Aspekte, braucht diese womöglich sogar. Mich dem üblichen LI-Gesurre in der Weise zu entziehen, empfinde ich folglich als kühnen Akt.
WER UND WAS BLEIBT
Mit Google und Instagram bleiben mir zwei Spielwiesen, die ich jedoch seit jeher nicht allzu ernst nehme. Auch wenn mir die beiden geblieben sind, vermisse ich doch mit LinkedIn die Große am meisten und freue mich schon darauf, wenn sie in einigen Wochen wieder aktiviert ist. Dann, wenn mit Ruhe der Frühjahrsputz erledigt sein wird.
Bis dahin bleibt mir die Erfahrung, mich im Business-Alltag ohne sie zu erleben. Und ohne die endgültig verabschiedeten Accounts und die teils doch deutlich abgespeckten Domains.
In meiner Alterskohorte bin ich vermutlich eine rare Erscheinung mit meinen bisher zahlreichen virtuellen Aktivitäten. Wie es sich anfühlt, wenn davon ein erheblicher Teil entfällt, das zu erleben ist kein Privileg der Jugend***.
Zwar handle ich souverän, indem ich mich diesem Transformationsprozess einer als radikal empfundenen Befreiung freiwillig unterziehe. Das ist vielleicht ein Privileg der späteren Jahre. Doch spüre ich deutlich die Fänge, die mich dort halten wollen. Und was es braucht, sich diesen zu widersetzen. Ein wahrer Kraftakt!
*DENS ist ein von Birgitt Morrien geprägtes Akronym
**Mit LinkedIn verhält es sich ähnlich wie mit meinem Blog. Die bisher dort verfügbaren Essays, Kolumnen und Coaching-Erfahrungsberichte von ehemaligen Klient*innen werde ich nach und nach in Buchform veröffentlichen.
***Es gibt sie, die jungen Menschen, die sich ganz bewusst auf einen Account (in der Regel Instagram) konzentrieren und ansonsten schon mal mit mir zusammen die Vorzüge der Lektüre einer gedruckten Zeitung bei einer guten Tasse Kaffee genießen.